Wie kam die Kartoffelpresse über die Grenze?

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Eine deutsch/deutsche Geschichte über Flucht, neue Heimat und Wiedervereinigung auf Raten

Von Sigrid Daum-Sauermann

„Jeden Sonntag gab es Klöße und meistens dazu einen Karnikelbraten“, erinnert sich Edeltraud Gerlinger, als sie und ihr Mann mit allerlei Küchenutensilien bei Bernhard Sauermann, dem Museumsleiter im Mönchshof, ankam. Es waren ihr wertvolle Gegenstände aus ihrer thüringischen Heimat, von denen sie sich nun trennen wollte. Im Gepäck hatte sie neben einem tönernen Topf zum Einmachen von Gurken, einem Honigtopf und einem Schmalztopf alles, was eine tüchtige thüringische Hausfrau zum Klößemachen braucht: die große Reibe und die Schüssel, in die am Sonntag die Kartoffeln gerieben wurden sowie die hölzerne Kartoffelpresse mit den dazugehörigen Säckchen für die geriebene Kartoffelmasse und nicht zu vergessen, den Quirl. „Oft sind es die kleinen Dinge, die große Geschichte schreiben“, resümiert Bernhard Sauermann. „Sie berichten von Menschen, ihren großen und kleinen Nöten und ihrem Glück. Von daher sind sie es allemal wert, mit ihrer Botschaft im Museum zu überdauern“.

Edeltraud Gerlinger erinnert sich: „Schon am Samstag begannen die Vorbereitungen und die damit verbundene Aufregung. Wir Töchter mussten die Kartoffeln schälen. Berge von Kartoffeln, denn die Klöße mussten für zwei Tage reichen. Und zwar nicht irgendwelche Kartoffeln, sondern sie mussten eine ganz bestimmte Konsistenz und Färbung haben – nicht zu fest und schön goldgelb wollte sie meine Mutter haben.“ Man sieht es ihr an, dass sich die Begeisterung der Mädels damals wohl in Grenzen gehalten hat.

„Und jeden Sonntag waren wir von neun bis vierzehn Uhr mit der Zu- und Nachbereitung des Mittagessens in der Küche beschäftigt. Zuerst wurden zwei Drittel der rohen Kartoffeln gerieben. Wie oft gab es dabei blutige Finger… und ein Drittel der Kartoffeln wurde mit Salz zu einem Brei gekocht.“ Dann wurden die geriebenen Kartoffeln nach und nach portionsweise in die Baumwollsäckchen gefüllt und mit der hölzernen Kartoffelpresse  die Flüssigkeit herausgepresst. Zu der nun trockenen Kartoffelmasse gab man die zurückgebliebene Kartoffelstärke dazu, brühte dies mit dem heißen Kartoffelbrei und vermengte alles mit einem großen hölzernen Quirl zu einem lockeren Kloßteig. „Dieser Quirl wurde sehr in Anspruch genommen und hielt immer nur etwa ein Jahr. Jedes Jahr wurde der Christbaum danach ausgesucht, ob der Stamm eine Reihe Zweige aufwies, aus denen sich gut ein Quirl schnitzen ließ.  „Es war eine Wissenschaft für sich, genau soviel Wasser zuzugeben, dass der Teig weich genug war für die „richtigen Thüringer Klöße“, die fast auseinanderfließen sollen, aber eben nur fast.

Die Familie lebte in Arnsbach, das liegt zwischen Saalfeld  und Probstzella. Der Vater von Edeltraud Gerlinger, Walter Schütze, hatte dort ein stattliches Säge- und Hobelwerk mit Holzgroßhandlung, bis er im Juli 1949 von der sowjetischen Besatzungsmacht inhaftiert und enteignet wurde. Die Haftbedingungen waren hart und Walter Gerlinger wurde krank und als „nicht haftgeeignet“ in den gesicherten Trakt des Krankenhauses in Saalfeld  gebracht.

Der 7. Oktober 1949 brachte eine weitere Aufregung in das Leben der thüringischen Familie. Der 2. Deutsche Volksrat erklärte sich zur Provisorischen Volkskammer und setzte die Verfassung der DDR in Kraft, womit die Deutsche Demokratische Republik gegründet war und unverzüglich mit der Abriegelung ihres Hoheitsgebietes begann.

Es war der 9. November 1949 als Edeltraud  bei Nacht und Nebel mit ihrer Mutter und ihrer Schwester ihren Heimatort Arnsbach  verließ. Sie „befreiten“ Walter Schütze,  um in einer mühsamen Route erst einmal über Ost- nach Westberlin zu gelangen. Wegen der zu erwartenden Kontrollen auf dem Territorium der soeben gegründeten Deutschen Demokratischen Republik musste die Familie darauf verzichten, außer den Kleidern, die sie am Leib trug, irgendwelche weitere Kleidung, Hausrat oder Einrichtungsgegenstände mitzunehmen. Den Kindern wurde eingeschärft, nichts zu sagen, wenn Beamte der Volkspolizei sie fragen würden. Die damals 8-jährige Edeltraud spürt heute noch die große Last, die ihr damit aufgebürdet wurde, denn wäre die Flucht aufgeflogen, hätte das für die Familie wegen Republikflucht Internierung oder Schlimmeres bedeutet.

Von Westberlin führte ihre Flucht dann per Luftbrücke nach Frankfurt am Main und von dort per Bahn nach Kulmbach in die Blaich. Der damalige Kulmbacher Polizeichef Ernst Pongratz und seine Familie gewährten den Flüchtlingen in ihrer Wohnung Unterkunft  und die beiden Mädchen gingen fortan in die Blaicher Schule. Edeltraud Gerlinger erinnert sich noch dankbar an diese Zeit: „ Die großzügige Unterstützung der Familie Pongratz hat meinen Eltern und uns Kindern wieder `auf die Beine geholfen` und die  Schulspeisung hat uns das Überleben gesichert. Der Hausmeister mochte uns. Er wusste, dass wir absolut mittellos waren und gab uns immer noch ein bisschen was für zuhause mit.“

Sehr gut konnte sie sich noch an „die gute Blutwurst von Sauermann“ erinnern und an die leckeren Schweinshaxen ,was den Museumsleiter außerordentlich erfreute.

Der Vater von Edeltraud Gerlinger, Walter Schütze, hatte in Arnsbach ein stattliches Säge- und Hobelwerk mit Holzgroßhandlung wegen der Enteignung zurücklassen müssen. In Kulmbach war er arbeitslos. Durch Zufall bekam er Kontakt zu Geheimrat Fritz Hornschuh, der in Mainleus auch ein Sägewerk besaß. Ihn konnte er in holztechnischen Fragen gut beraten. Das Honorar dafür nutzte er als Startkapital, um sich in Döllnitz die Schneidmühle zu pachten und einen Holzhandel zu beginnen. 1955 gründete er dann in Krummefohre eine Fabrik, in der er Holzgestelle für Polstermöbel im Coburger Raum herstellte.

Anfänglich wohnte die 4-köpfige Familie Schütze in der Döllnitzer Mühle in 1 ½ Zimmern und konnte aber bereits 1953 in der Siedlung Mannsflur zu einem eigenen Häuschen gelangen, dessen Haushalt Edeltraud Gerlinger nun auflöste und einige Stücke davon den Museen im Mönchshof übergab.

Bleibt nur noch die Frage, wie kamen diese Sachen aus Thürigen nach Oberfranken? „Während des ersten Sommers in Kulmbach waren die Grenzen noch nicht überall durch Zäune gesichert, sondern es gab Patroullien. Unsere zurückgebliebene Verwandtschaft in Thüringen hatte ausgekundschaftet, dass es ein Zeitfenster von etwa 1 Stunde gab, in der die Grenze der thüringisch/bayerischen an einer bestimmten Stelle bei Falkenstein (Probstzella/Lauenstein) unbewacht war. Dorthin sind wir dann Sonntag für Sonntag mit ein bisschen Brotzeit „zum Heidelbeerenpflücken“ gefahren, das war jedes mal ein kleines Familientreffen mit den Verwandten aus dem Osten. Dabei hat meine Großmutter immer etwas aus unserer ehemaligen Wohnung mitgeschleppt, soviel sie tragen konnte. Eine Wiedervereinigung auf Raten mit unserem Hausrat. Einmal war es eine Schreibmaschine, einmal eine Standuhr und ab und zu Küchengeräte, wie zum Beispiel die ganz wichtige Kartoffelpresse. Nun konnte es Sonntags wieder Thüringer Klöße geben, ganz wie in der ehemaligen Heimat.

Das Ehepaar Edeltraud und Karl Gerlinger (Mitte) „beliefern“ die Museen im Mönchshof mit allerlei historischem Hausrat, der eine ganz eigene Geschichte der Wiedervereinigung erzählt. Mit im Bild Karola Helm, Verantwortliche für das Museumspädagogische Zentrum und Eventmanagerin der Museen im Kulmbacher Mönchshof (links) und geschäftsführender Museumsleiter Bernhard Sauermann.